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Bitcoin ist kein Innovationserfolg

Als Spekulationsobjekt schlägt der Bitcoin Wellen, als Zahlungsmittel und innovative Währung plätschert er lau vor sich hin. Welche Rolle hatte fehlendes evidenzbasiertes Handeln bei dieser Entwicklung?
Bitcoin und Hintergrund

Der 31.10.2008 hätte der Geburtstag einer Innovation sein können. Einer, deren disruptives Potenzial nicht nur in der Theorie besteht, sondern auch in der Praxis die Dinge neu ordnet. Einer, der also alles verändert. Rückblickend allerdings zeigt sich: Der 31.10.2008 war lediglich der Geburtstag des Bitcoin Whitepapers. Eine Innovation kam damals nicht zur Welt. Warum lässt sich das heute so hart sagen?

Nach 16 Jahren eine Erfolgsgeschichte – oder doch nicht?

Ende Oktober 2008 tauchte im Internet ein Manifest namens „Bitcoin: A Peer-to-Peer Electronics Cash System” auf. Es ist auch bekannt als das „Bitcoin Whitepaper“, publiziert unter dem mysteriöse Pseudonym Satoshi Nakamoto. Bis heute kann ihm keine real existierende Person, ein Kollektiv oder ein Unternehmen zugeordnet werden.

Stark verkürzt beschrieb das Whitepaper die konkret ausgearbeitete Idee einer dezentralen Währung, eben Bitcoin. Sie sollte als Alternative zu traditionellen Währungen und einem Zahlungskreislauf abseits des bestehenden Bankensystems bestehen: nutzbar für alle und behördlich kontrolliert durch niemanden. Beschrieben wurden zu diesem Zweck ein unterstützendes Peer-to-Peer-Netzwerk, die Funktionsweise der Blockchain-Technologie und die Verifizierung von Transaktionen auf der Blockchain.

Heute, 16 Jahre später, ist Bitcoin omnipräsent. Die Idee ist zur Umsetzung gereift; das Zahlungsmittel existiert, und die Technologie dahinter – die Blockchain – hat sich als solide und über die Grenzen der Bitcoin-Zahlungsabwicklung hinaus bewährt. Wer sich dem Thema lieber berauscht nähert, findet in Meldungen um einen absurd steigenden Wert von Bitcoins (jüngst durchbrach er die 100.000-Dollar-Marke) seine drug of choice. Und wer im – zumindest auf die Dauer von 4 Jahren absehbaren – trumpschen Zeitalter gar Lust auf eine Überdosis hat, kann vorausgesagte Werten bis 700.000 Dollar im Jahr 2030 Glauben schenken.

Diese Wertentwicklung klingt nach Erfolg. Aus Innovationsperspektive betrachtet ist es aber tatsächlich keiner.

Keine Diffusion = keine Innovation

Gemeinhin werden neue Ideen im strengeren Innovationssinne dadurch zum Erfolg, dass der Hebel der Massenanwendung zu ihren Gunsten wirkt. Aber diese Masse fehlt Bitcoin. Der Erfolg begründet sich Mal um Mal erneut durch Massenhypes und spekulativen Glauben, dem die Bitcoin-Kurse in absurder Volatilität folgen. Böse gesagt: Wäre Bitcoin als Spekulationsobjekt angetreten, etwa um den Irrwitz des Kunstmarktes den Rang abzulaufen, dürfte es sich mittlerweile als echte Innovation bezeichnen. Hier hat es funktioniert.

Echte und relevante Anwendungsvolumina als Zahlungsmittel (also eine Diffusion im Schumpeterschen Sinne) dagegen fehlen. Bitcoin wird als Zahlungsmittel im Alltag (das es ja eigentlich werden sollte) nicht nennenswert genutzt; es fristet ein Nischendasein. Ironie der Geschichte: Es dürfte wohl unter anderem ausgerechnet die hohe Wert-Volatilität sein, die es einerseits als Spekulationsobjekt interessant und andererseits als stabiles Zahlungsmittel nahezu unbrauchbar macht. Da tut es auch nichts zur Sache, dass namhafte Unternehmen von Lieferando und Starbucks bis zu Mastercard, AT&T und Microsoft Bitcoin schon länger als Zahlungsmittel akzeptiert haben.

Person mit Bitcoins
Bitcoin als Zahlungsmittel? Ein moderner Mythos über digitales Gold

Evidenzbasiertes Handeln: Was bei der Bitcoin-Entwicklung keine Rolle spielte

Wäre das (vorläufige) Scheitern als alttägliches Zahlungsmittel vorauszusehen gewesen? Darüber lässt sich trefflich streiten. Zweifelsohne aber lässt sich sagen, dass der Verlauf ein anderer hätte sein können, wenn die Entwicklung von Bitcoin und anderer Kryptowährungen als Prozess eines evidenzbasierten Handelns aufgesetzt worden wäre. Wenn sich die Entwicklung also nicht nur am technisch Machbaren ausgerichtet hätte. Sondern am fundiert erhobenen Interesse der Nutzenden, an validen Daten zu Kundebedürfnissen und Anforderungen sowie an Ergebnissen von Markttests für Rückkopplung, Optimierung und spätere Skalierung.

Werfen wir einen genaueren Blick auf die Faktoren eines evidenzbasierten Handelns und ihre Vorteile:

  • Datensammlung & -analyse Anhand der Sammlung und Analyse relevanter Daten kann Evidenz dazu beitragen, die tatsächlichen Probleme und Bedürfnisse der Zielgruppe zu verstehen. Dadurch kann eine Innovation in die richtige (sprich: bedürfnis- und marktchancenorientierte) Richtung gelenkt werden. Vermutete Mehrwerte werden bestätigt oder als nicht relevant enttarnt. Das stellt sicher, dass aus einer reinen Invention auch eine Innovation wird – wenn sie denn ihr Potenzial dazu zeigt.
  • Nutzung von Ressourcen Evidenzbasiert zu handeln, heisst im engeren Sinne, evidenzbasiert zu entscheiden. Evidenz sichert die Entscheidungen ab. Sie zu erlangen erfordert, in erheblichem Masse Ressourcen einzusetzen: Teammitglieder, Zeit und Geld. Die Ressourcen fliessen in die Festlegung relevanter Fragen für Marktforschung, die Entwicklung von Testdesigns und testbarer Prototypen. Es folgen die tatsächlichen Tests und Marktforschungen auf echten Märkten sowie die anschliessende fundierte Datenauswertung. Kurz: Die Ressourcen fliessen in Entscheidungssicherheit, die Bauchgefühl überflüssig macht. Fehlannahmen können frühzeitig erkannt und korrigiert werden. Fehlinvestitionen lassen sich vermeiden und sinnstiftende Investitionen in Gewinnerideen werden möglich. Risiken und Aufwand werden minimiert.
  • Hohe Agilität Bei Innovationsprojekten ist Agilität gleichsam Voraussetzung und Folge eines evidenzbasierten Handelns. Prozesse und Entscheidungsbefugnisse müssen so aufgesetzt sein, dass jedem Erkenntnisgewinn bei Bedarf eine Änderung in Strategien, Designs, oder Budgets folgen kann. Die Fähigkeit für kontinuierliche Anpassungen ist die Basis für kontinuierliche Verbesserungen. Belastbare Daten aus Feedbacks der Nutzenden und Tests zeigen, welche Aspekte funktionieren, und welche Punkte verbessert werden müssen. Durch diese dynamische Iteration reifen Anwendungsrelevanz, Marktchancen und Qualität des Innovationsprojektes.
Schema eines Plans
Eine frühzeitige Validierung an verschiedenen Entscheidungspunkten minimiert die Risiken eines Innovationsvorhabens

Fünf Bitcoin-Probleme, die früh hätten erkannt werden können

Was hätte die Anwendung dieser Faktoren im Entwicklungsprozess von Bitcoin überhaupt gebracht? Sehr wahrscheinlich frühe, valide abgesicherte Hinweise darauf, wie schwer sich Nutzende mit Grundproblemen von Kryptowährungen und der Undurchsichtigkeit beziehungsweise Betrugsanfälligkeit des Marktes tun würden. Beispielhaft sind an dieser Stelle fünf Risiken, die sich über die Dauer der Zeit als problematisch erwiesen haben:

  • Zeitverlust Werden Kryptowährungen wie Bitcoins zwischen Handelsplätzen transferiert, dauert die Bestätigung der Transaktion in der Blockchain. Abhängig von der Auslastung eines Netzwerks entstehen variable Transaktionskosten und Zeitverzögerungen, bis der Eintrag einer neuen Transaktion bestätigt wird. Dies betrifft insbesondere Transaktionen mit den Kryptovorreitern Bitcoin und Ethereum.
  • Zugriffsgrenzen Wer Kryptowährungen erwerben und verwahren möchte (vergleichbar mit einem Konto), braucht neben dem Zugang zu einem Handelsplatz auch einen Ort zur Aufbewahrung. Die dafür gedachten Wallets haben abseits vom Risiko eines Hackings (beim hot wallet) oder Hardware-Schadens (beim cold wallet) vor allem ein Problem: Sind die Zugangsdaten verloren, gilt das auch für die digitalen Coins. Das Risiko entfällt auch nicht bei der Nutzung von Börsen: Die sind zwar komfortabel in der Nutzung, verlagern das Risiko des Verlustes von Zugriffsdaten und verwehrten Zugriffs aber nur auf Dritte. Und fällt eben diese dritte Partei ihrerseits aus, ist schlicht alles für alle gesperrt. Beispielhaft illustrierten dies der Crash der Kryptobörse FTX und der Tod des Quadriga-CEOs Gerald Cotton. Letzterer nahm die Schlüssel der Anbieterkonten mit ins Grab – mit Null Zugriffsmöglichkeit auf ihre Kryptowährungsbestände.
  • Unumkehrbarkeit Wenn Einträge in der Blockchain einmal anerkannt werden, können diese je nach Anbieter nicht mehr rückgängig gemacht werden. Misstrades sind also irreversibel. Das gilt bei versehentlichen Buchungen ebenso wie bei unbefugten. Ein Umstand, der im für Cyberkriminalität anfälligen Digitalbereich überaus abschreckend wirkt.
  • Volatilität Wie kaum eine zweite Kryptowährung spiegelt der Bitcoin das Risiko von Kursschwankungen wider. Der Wert der Währung ist hochvolatil, was vor allem an der begrenzten Menge verfügbarer Coins liegt – sie ist auf 21 Millionen gedeckelt und kann niemals unter den Stand der auf dem Markt befindlichen Coins sinken. Das macht den Bitcoin-Markt hochanfällig für Spekulationen. Zentralbanken, die bei herkömmlichen Währungen Nachfrageschwankungen ausgleichen können, fallen hier aus. Dafür spielen Hypes und Berichterstattungen eine umso wertbeeinflussendere Rolle. Die damit einhergehenden Chancen und Risiken stossen mindestens ebenso viele User ab wie sie Spekulanten anziehen.
  • Krypto-Scams Der Handel und Einsatz von Bitcoin und anderen Kryptowährungen hat seine Wild-West-Jahre hinter sich. Er wird zunehmend reguliert, Betrugsfälle werden härter verfolgt und leichter enttarnt. Dennoch ist die Liste an betrügerischen Kryptowährungs-Stories lang, und die Liste absurder Parodien von Kryptowährungen ist noch länger. Und milliardenschwere Betrugsfälle wie One Coin (hinter dem keine Blockchain stand: Die Ziffern wurden einfach in eine Datei eingetippt, konnten aber nie in echtes Geld umgewandelt werden) oder der Fall der Krypto-Börse FTX (deren eigens herausgegebene Kryptowährung keinerlei Gegenwert hatte) haben dem Markt und Vertrauen stark geschadet.

Was das Bitcoin-Beispiel lehrt

Zweifelsohne kann im Fall von Bitcoin kein Fingerpointing auf Verantwortliche stattfinden. Die Währung begann zwar (sehr wahrscheinlich) als Gedankenkonstrukt eines Einzelnen, wird aber in ihrer Entwicklung bis heute durch die Aktivitäten aller Bitcoin-Nutzenden und die Ausgestaltung von Marktplätzen vorangetrieben. Es gibt also schlicht keine Instanz, die ein valides Interesse am Funktionieren der Währung im Sinne einer marktverändernden Innovation hat.

Dennoch ist der Bitcoin ein gutes Beispiel für die Relevanz evidenzbasierten Denkens und Handelns. Es zeigt nämlich auf, dass ohne zielgerichtetes und fundiertes Agieren ein Erfolg höchstens zufällig eintreten kann. So geschehen in Bezug auf die Popularität des Bitcoins als Spekulationsobjekt. Er darf als Erfolg gewertet werden – aber eben einer, der nie angestrebt wurde. Das eigentliche Ziel, konventionelle Währungen abzulösen, hätte erreicht werden können. Mit einem entscheidenden Hinweis: Ein Prüfen der Marktchancen und -bereitschaft hätte sehr wahrscheinlich ergeben, dass die Zeit für eine solche Währung zumindest hinsichtlich der Alltagstauglichkeit noch nicht reif ist.