Auf der Suche nach neuen Talenten könnten Europas IT-Unternehmen ausgerechnet in den Krisenregionen des Nahen Ostens und Nordafrikas fündig werden. Genau dafür engagiert sich das Jobintegrationsprojekt Remotecoders. Ausgestattet mit den Ausbildungsressourcen der Powercoders Programmierakademie, vermittelt Remotecoders IT-Talente aus Krisenregionen und insbesondere gefährdete Personen in die europäische IT-Branche.
Das Business Model von Remotecoders: Migration durch Digitalisierung zu stoppen und unternehmerische Wachstumsperspektiven durch soziale Absicherung von Mitarbeitern zu stärken. Wir haben darüber mit Hussam Allaham, Mitgründer und COO von Remotecoders, gesprochen. Im Interview erklärt er, wie Remote-Anstellungen in Krisenregionen zur Existenzsicherung beitragen und vor Flucht und Vertreibung bewahren. Gleichzeitig erläutert Hussam, wie Remotecoders dabei westlichen IT-Unternehmen Zugang zu einer breiten und motivierten Mitarbeiter-Basis eröffnet.
HudsonGoodman: Was bedeutet Innovation für Dich?
Hussam Allaham: Innovation bedeutet für mich, ausserhalb von Konventionen zu denken, mit Menschen zu arbeiten, die anders sind als ich, und den Mut zu haben, neue Ideen auszuprobieren. So kannst du Lösungen für die Probleme der Welt finden und sie in die Praxis umsetzen.
In welchem Bereich gibt es aus Deiner Sicht heutzutage besonderes Potenzial für echte Innovationen?
Klima, Migration und Regierungsführung – in diesen Bereichen sehe ich echte Innovationen als ein Muss. Sie gehören zu den drängendsten Problemen der Welt. Innovation auf diesen Feldern können darum den Aufbruch in eine neue Ära ermöglichen.
Du hast in deiner Heimat Syrien studiert und als Englischlehrer gearbeitet, musstest vor zehn Jahren aber fliehen. Heute bist Du in der IT tätig. Wie ist es dazu gekommen?
Schon als ich noch in Syrien lebte, war IT meine grosse Leidenschaft. Obwohl mein Universitätsstudium auf etwas ganz anderes ausgerichtet war, habe ich nebenbei viele IT-Kurse belegt und zertifizierte Fortbildungen gemacht. Als dann vor zehn Jahren der Krieg in Syrien ausbrach, floh ich in den Libanon. Dank des UNHCR hatte ich das Glück, 2015 zusammen mit meiner Frau und unserer kleinen Tochter in die Schweiz nach Bern ziehen zu können.
Dort sah ich eines Tages zufällig einen Flyer von Powercoders. Die Organisation hatte sich gerade frisch gegründet mit dem Ziel, IT- und Programmierschulungen für Flüchtlinge und damit ihre Möglichkeiten am Arbeitsmarkt zu fördern. Ich beschloss, mich zu bewerben.
Daraus wurde dann aber mehr als nur ein Abschluss.
In der Tat gehörte ich zu den ersten, die das Powercoders Bootcamp absolvierten. Dabei lernte ich den Gründer von Powercoders, Christian Hirsig, kennen. Wir verstanden uns sehr gut, wurden Freunde, und ich beschloss, in der Organisation zu bleiben.
Was war ausschlaggebend dafür?
Powercoders ist eine Programmierakademie und ein IT-Job-Integrationsprogramm, das darauf abzielt, das Leben von Flüchtlingen und Migranten zu beeinflussen. Indem sie Programmieren lernen, können diese Menschen nicht nur finanzielle und soziale Unabhängigkeit zurückgewinnen, sondern auch zur Lösung für den Mangel an Fachkräften im IT-Sektor werden. Vor diesem Hintergrund stellte 2020 dann die Pandemie die Welt auf den Kopf. Neben all ihren dramatischen Auswirkungen hatte sie auch Einfluss auf Digitalisierungsprozesse, die plötzlich in mehr Bereichen denn je eine Rolle spielten und sich mittlerweile auf fast jeden Aspekt unseres täglichen Lebens ausdehnen. Damit wird auch der Bedarf an Fachleuten, die im Digital-Bereich qualifiziert sind, zunehmen.
Wie ist daraus Remotecoders entstanden?
Remotecoders spross im November 2021 sozusagen aus derselben Wurzel wie Powercoders. Während Powercoders sich aber an diejenigen richtet, die beschlossen haben, ihre Heimat zu verlassen und woanders ein neues Leben zu beginnen, zielt Remotecoders auf IT-Fachkräfte ab, die sich entschieden haben, in ihrer Heimat zu bleiben. Das Programm vermittelt sie an Unternehmen in der EU – mit einem entscheidenden Vorteil: Beide Seiten müssen sich nicht räumlich näherkommen, um auf einer Arbeitsebene zusammenzufinden. Dieser Aspekt ist so markant, dass er unserer Organisation ihren Namen gegeben hat.
Was ist der innovativste Aspekt von Remotecoders?
Zum einen ist das in der Tat der Remote-Faktor, mit dem wir gleich zwei drängende Probleme lösen: den Mangel an IT-Talenten in der EU und den Mangel an Beschäftigungsmöglichkeiten in der MENA-Region, die auf verschiedenen Ebenen leidet. Zum anderen bieten wir ein besonderes Mitarbeiter-Modell. Es entstand vor dem Hintergrund von Erfahrungen aus zwei Pilotprojekten in der Türkei und Tunesien. In der Türkei haben wir dabei 2020 zehn Flüchtlinge mit lokalen und internationalen Unternehmen zusammengebracht und 2021 in Tunesien mit ähnlichem Erfolg zwölf vulnerable* Personen mit lokalen sowie nicht regional ansässigen Unternehmen. Das Feedback war positiv, und noch immer kommen neue Vermittlungen hinzu. Wir merkten aber, dass uns die Effizienz fehlte, um so viele Talente zu vermitteln, wie wir wollten. Unser Ziel ist, Hunderten Menschen pro Jahr zu helfen. Tatsächlich gelangen uns mit unserem ersten Modell aber nur wenige Vermittlungen.
Also brauchte es ein neues Modell?
Ja, und in diesem haben wir unser Angebot geändert: Statt einzelner Mitarbeiter bieten wir Teams an. Sie bestehen aus zwei Junioren und einem Senior-Entwickler. Während die Junioren aus vulnerablen Personengruppen kommen, muss das für die Senior-Position nicht der Fall sein, er oder sie ist aber dennoch in der MENA-Region ansässig. Das Innovative des neuen Modells ist, dass wir bei der Teambildung auf Spezifikationen eingehen können, um die unsere Unternehmenskunden uns bitten. Dafür besetzen wir bei Remotecoders zuerst die Senior-Ebene und bilden dann gemeinsam das Team. So können wir unseren Kunden eine komplette, strukturierte Unit inklusive der Infrastruktur bieten, in der das Team in Vollzeit für den Kunden arbeitet. Das erlaubt IT-Unternehmen aus Europa, auf qualifizierte und engagierte Fachkräfte setzen.
Wie nimmt der Markt euer Angebot an?
Das Interesse ist enorm! Zugegeben: Unser Modell bringt für alle Seite eine gewisse Herausforderung mit sich – aber es ist erfolgreich. Bisher haben mehr als 30 Unternehmen Interesse angemeldet.
Welche Vorteile haben die von euch vermittelten Personen bzw. Teams?
Wir schaffen für Menschen aus vulnerablen Gemeinschaften in der MENA-Region einen direkten Zugang zum europäischen Arbeitsmarkt. Das Entscheidende: Die Menschen beginnen, über ein regelmässiges Einkommen zu verfügen. Das verbessert die Situation für ihre Familien und auch die ihres Umfeldes. Ausserdem sinkt die Not, die Heimat zu verlassen. Die sozialen Auswirkungen davon auf die Communities sind gross.
Wie sind die längerfristigen Aussichten der Teams in den Unternehmen, die sie beschäftigen?
Die Senior-Positionen sind als Festanstellung angelegt, die Junior-Positionen werden als 6-monatige Praktika angeboten. Nach Ablauf der sechs Monate können die Unternehmen die Praktikanten entweder als Junioren einstellen oder ihre Praktika bei Bedarf verlängern. Während der Praktikumslaufzeit bekommen die Praktikanten von Remotecoders die technischen Fähigkeiten gelehrt, die Unternehmen benötigen. So sind sie nach ihrem Praktikum bereit und gut vorbereitet, in Junior-Positionen zu wechseln. Ergibt sich weder ein Wechsel noch eine Verlängerung des Praktikums, nehmen die Praktikanten an lokalen „Career Days“ teil, wo ihnen Unternehmen aus ihrer Region Praktika in Junior-Positionen anbieten.
Du hast eben schon erwähnt, dass die Junioren eurer Remotecoders-Teams während ihrer Anstellungen weitergebildet werden. Dafür ist die Powercoders Programmier-Akademie zuständig. Wie hilft ihnen das, wenn das Remotecoders-Programm endet?
Zum einen erlernen die IT-Talente über eine Zusammenarbeit mit der EPFL Extension School (Europas führender E-Learning Anbieter, d. Red.) technische Fähigkeiten und entwickeln sie weiter. Zum anderen ist uns aber auch wichtig, den Absolventen eine Reihe von Soft Skills zu vermitteln, die ihnen helfen, künftig mit europäischen Unternehmen in Kontakt zu treten. In manchen Bereichen unterscheiden sich da westliche Kulturen deutlich von dem, was die Menschen aus ihrer Heimat gewohnt sind. Es gibt sozusagen zwei sehr weit voneinander entfernte Realitäten. Die muss man erst miteinander verbinden. Unsere Vision ist darum, mit Remotecoders auch eine Coaching-Brücke zwischen beiden Seiten zu schaffen. Und selbst in der Zeit nach Remotecoders verfügen unsere IT-Talente dann durch ihre Ausbildung über die Fähigkeiten, die sie benötigen, um erfolgreich zu sein.
Wir bei HudsonGoodman arbeiten nach dem Grundsatz „Make no little plans“. Was bedeutet diese Aussage für Dich?
„Make no little plans“ heisst für mich, in grossen Zusammenhängen zu denken. Das gilt umso mehr für Projekte, die Neues wagen, um Veränderung zu bewirken. Und da kann „Make no little plans“ auch für den Mut stehen, sozusagen ein neues Flugzeug zu besteigen und es erst während des Starts fertig zu bauen.
*Als vulnerabel werden im Kontext von Flucht und Vertreibung Personen bezeichnet, die eine besondere Schutzbedürftigkeit haben, z. B. Minderjährige und Alte, Schwangere, Menschen mit schweren Erkrankungen oder körperlichen Beeinträchtigungen sowie Opfer von physischer, psychischer oder sexueller Gewalt.
Hussam Allaham kam 2015 als syrischer Kriegsflüchtling in die Schweiz. In Bern schloss er sich Powercoders an, einer Organisation zur Förderung von IT- und Programmierschulungen für Flüchtlinge. Selbst Absolvent der Powercoders Programmierakademie, war Hussam 2021 an der Gründung des Powercoders Spin-off Remotecoders beteiligt, der IT-Talente aus der MENA-Region ausbildet und in Remote-Jobs bei europäischen IT-Unternehmen vermittelt. Aktuell betreut Hussam als COO die Remotecoders Geschäftsentwicklung in Nordafrika.