Was der Bauer nicht kennt, isst er bekanntermassen nicht. Würde diese Lebensweisheit auch in der Geschäftswelt gelten, hätten Betrugsmaschen wie Schneeball- oder Ponzi-Systeme keine Chance: Zu undurchsichtig sind sie, zu wenig nachvollziehbar ist, wie ihre wilden Profitversprechen überhaupt jemals Realität werden sollten. Warum funktionieren sie dennoch immer wieder? Was lässt die Bernie Madoffs dieser Welt Milliarden einsammeln oder zweifelhafte Business Coaches und Gemüsekapseln-Anbieter Erfolg haben? Und wie kann evidenzbasiertes Handeln davor schützen?
Rekrutierung als Profitquelle
Wie ein Schneeballsystem funktioniert, wird an einem kleinen Beispiel klar. Denken wir uns einen Anbieter von Brokkoli-Pillen aus, der die Nährstoff- und Vitaminkraft des grünen Gemüses endlich erschöpfend verfügbar machen will – inklusive goldener Nasen, die sich damit ganz sicher verdienen lassen. Der Anbietende sucht Investierende für sein Projekt und rekrutiert sie unter anderem im Freundes- und Bekanntenkreis.
Vor allem dort werden die Sympathie und das Vertrauen innerhalb eines sozialen Umfelds als Treiber genutzt, um potenzielle Interessenten zu überzeugen. Für sie wird eine Einlage fällig, die als Eintrittspreis zur Teilhabe an den Erfolgsaussichten gilt. Gewinnen diese Individuen (ebenfalls im privaten oder erweiterten Umfeld) ihrerseits Investierende, die Einlagen tätigen, gibt es dafür Provisionen. Klingt windig, aber nach Kurzem werden tatsächlich die ersten Gelder ausgezahlt. Sie belegen den versprochenen Erfolg des Ganzen. Und sie bestätigen jeder einsteigenden Person, dass sich insbesondere das Gewinnen neuer Anlegenden auszahlt.
Das lässt die ursprüngliche source of business, unsere Brokkoli-Pillen, in der Aufmerksamkeit erst einmal nach hinten treten. So sehr, dass unter Umständen nicht einmal mehr die Frage gestellt wird, ob sie zum Erfolg beitragen oder überhaupt existieren.
Konstruktion einer Pyramide – die Menge macht’s aus
Das beschriebene Prozedere ist in nahezu allen Schneeballsystemen mehr oder weniger gleich. Durch das Belohnungssystem der Anwerbungs-Provisionen entsteht ein hierarchisches Modell – die berühmte Pyramidenstruktur. An der schmalen Spitze finden sich einige wenige etablierte Personen. Darunter folgen die von ihnen Angeworbenen, unter denen wiederum in exponentieller Vermehrung die von ihnen angeworbenen Investierenden folgen und selbst weitere Personen in das System schleusen. Es entsteht ein sich zwangsläufig selbst ernährendes System, das ohne Neuzugänge implodieren würde.
Um das System auf allen Ebenen der Pyramide am Laufen zu halten, wird der Fokus stets auf eine positive Stimmung gelegt. Vermittelt wird: Jeder kann es schaffen und seine finanzielle Situation verbessern – und das mit nur geringem Aufwand. Gleichzeitig werden zu drängende Fragen im Bezug auf ihre Gewinnausschüttung möglichst verhalten beantwortet: Oft wird versichert, dass die Auszahlung des Gewinns erst zu einem späteren Zeitpunkt erfolge, zur Not aber dennoch jederzeit ausgezahlt werden könne. Unlautere und irreführende Geschäftspraktiken werden dadurch vertuscht.
Unter dem Strich arbeiten Schneeball- oder betrügerische Pyramidensysteme vor allem mit dem Unwissen und der Hoffnung aller Teilnehmenden – zwei wirksame Tools, um möglichst viele Personen anzulocken. Und alle, die weiter rekrutieren, werden gleichzeitig selbst Nutzende dieser Tools, während sie selbst von ihnen bearbeitet werden. Ein perfides System.
Systemfrage: Pyramide, Ponzi oder MLM?
Betrugsmaschen, die Investierende an der Nase herumführen, gibt es in verschiedenen Ausprägungen. Oft werden sie in einen Topf geworfen, weil sie sich in ihrem betrügerischen Ansatz ähneln. Herauszuheben sind hier vor allem das sogenannte Ponzi-System und die illegale Ausprägung des Multi-Level-Marketings. Eine kurze Beschreibung der Wesensmerkmale erleichtert die Abgrenzung.
Ponzi-System
Das System trägt den Namen des Wirtschaftsbetrügers Charles Ponzi. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts sammelte er von amerikanischen Investierenden Geld für das Versprechen ein, Antwortscheine des Weltpostvereins zu kaufen, die in Europa günstig zu haben und in Amerika mit Gewinn zu verkaufen wären. Er stellte eine Rendite von 50 Prozent in Aussicht.
Forderungen danach konnten anfangs durch Kapitalzuflüsse neuer Einzahlender beglichen werden. Da allerdings kein tatsächlich funktionierender Handel mit den Antwortscheinen dahinterstand, wuchsen das Misstrauen der Anlegenden und das Interesse der Staatsanwaltschaft. Ponzis System crashte 1920 und der Initiator wanderte hinter Gitter.
Im Unterschied zu einem Schneeball- oder Pyramidensystem werden ein Ponzi-System und dessen Geldflüsse üblicherweise von einer zentralen Person oder Organisation kontrolliert. Diese Systemleader rekrutieren Investierende selbst, sammeln deren Geld ein und versprechen darauf eine langfristige Rendite, die sich aus einer gewinnbringenden Investition des eingelegten Geldes ergeben soll.
Im betrügerischen Pyramidensystem hingegen werden die Teilhabenden selbst zum fortlaufenden Rekrutieren nachfolgender Mitglieder angewiesen. Deren Einlagen sichern explizit den Geldzufluss und damit eine in Aussicht gestellte kurzfristige Rendite des Geschäfts. Anders gesagt: In beiden Systemen wird Geld durch die Zahlungen von Investierenden verdient. Aber nur bei einem Schneeballsystem sind sich die Teilnehmenden dessen auch bewusst.
Wie lange ein Ponzi-System den Anschein eines soliden Geschäftes vermitteln kann, zeigt der Fall von Bernard “Bernie” L. Madoff. Die fehlende Solidität seines Investmentfonds flog über Jahrzehnte nicht auf, weil Investitionen in Milliardenumfang tatsächlich hohe Renditezahlungen aus dem Einlagekapital stetiger Neurekrutierungen gegenüberstanden. Erst als zu viele Investierende gleichzeitig Barauszahlungen forderten, kollabierte das System.
Multi-Level-Marketing
Multi-Level-Marketing ist ein Vertriebsmodel, bei dem die handelnden Personen einerseits Produkte oder Dienstleistungen selbst verkaufen, darüber hinaus aber auch immer wieder weitere Mitglieder anwerben, von deren Verkäufen sie Provisionen erhalten. So entsteht ein Netzwerk, bei dem auf mehreren Ebenen verdient wird (Multi Level).
Das progressive Anwerben weiterer Leute und die dadurch entstehende Pyramidenstruktur sorgen dafür, dass MLM-Modelle schnell mit Betrugsmaschen in Verbindung gebracht werden. Die Unterschiede zu betrügerischen Schneeball-, Pyramiden- oder Ponzi-Systemen sind aber bei aller Ähnlichkeit signifikant. Drei zentrale Faktoren stechen besonders heraus:
- Nachhaltigkeit: Im Gegensatz zu Betrugsmaschen kann ein MLM nachhaltig sein, wenn die Vorgehensweise auf Verkäufen echter Produkte oder Dienstleistungen basiert und die Vergütung sich vor allem daran bemisst.
- Legalität: Unter Einhaltung einiger rechtlicher Anforderungen ist MLM in vielen Ländern legal. Dazu gehört vor allem ein tatsächlich gewährleisteter Verkauf echter Produkte oder Dienstleistungen als Hauptgeschäftsmodell. Schneeball-, Pyramiden- oder Ponzi-Systeme sind dagegen vorrangig auf die Rekrutierung neuer Teilnehmenden ausgelegt. Dieses Vorgehen ist illegal und wird mit Geld- oder Haftstrafen belegt.
- Legitimität: MLM-Unternehmen müssen transparent über ihre Verdienstmöglichkeiten und Geschäftsmodelle informieren. In diesem Zusammenhang müssen Mitarbeitende die Möglichkeit haben, ihr Einkommen auch ohne Rekrutierung beziehungsweise nur durch reinen Verkauf zu erzielen. Das ist bei betrügerischen Pyramiden-Systemen nie gegeben.
6 Faktoren, die zu einer rosaroten Brille bei Betrugsmaschen führen
Betrugsmaschen wie das pyramidenförmig angelegte Schneeballsystem setzen verschiedene Hebel ein, um die menschliche Psychologie zu manipulieren und durch Täuschungstechniken zum Erfolg zu führen. Bei der Irreführung vermeintlich rational denkender oder handelnder Menschen spielen vor allem die folgenden 6 Faktoren eine entscheidende Rolle:
1. Hohe Renditen
Betrügerische Geschäftsmodelle locken Zielgruppen häufig mit unrealistisch hohen Renditen an. Der versprochene Profit liegt weit über dem, was auf legitimen Märkten üblich ist. Die Vorstellung, auf eine schnelle und simple Art Gewinn zu erzielen, ist für viele Teilnehmende so verführerisch, dass sie die Entscheidungsfindung stark beeinflusst.
2. Vermeintliche Glaubwürdigkeit
Die hohen Renditen werden zu Beginn oft tatsächlich ausgezahlt. So wird das Vertrauen von Investierenden gestärkt und die Glaubwürdigkeit des Betrugssystems steigt. Der Effekt der positiven Bestätigung verleitet Interessenten fatalerweise dazu, weiteres Geld zu investieren und andere zu überzeugen, dies ebenfalls zu tun.
3. Sozialer Druck
Mundpropaganda und persönliche Empfehlungen sind in jeder Hinsicht hocheffiziente Mittel, um (wissend oder unwissend) Werbung für ein betrügerisches Geschäftsmodell zu machen. Sie eröffnen das eigene persönliche Umfeld als Netzwerk zur Verbreitung. Und dort erzeugen die Renditeerfolge (erhaltene oder in Aussicht gestellte) von Freunden, Familienmitgliedern oder dem Arbeitsumfeld sozialen Druck nach dem Motto:
4. Fehlendes Wissen
Ein Grund für die Anfälligkeit gegenüber betrügerischen Geschäftsmodellen ist das bei vielen Menschen fehlende Verständnis für Finanzmärkte und Wirtschaftssysteme. Es paart sich äusserst unglücklich mit der Hoffnung auf und den Glauben an schnelles Geld und finanzieller Unabhängigkeit, die in der Gesellschaft weit verbreitet sind. Warnsignale werden dadurch weniger wahrgenommen oder bewusst ignoriert.
5. Charismatische Unternehmerpersönlichkeiten
Die Täuschung durch charismatische Unternehmerpersönlichkeiten ist besonders perfide. Durch ihre manipulative Verhaltensweise und ihren Charme sind sie in der Lage, Vertrauen herzustellen, Leute zu täuschen und die Fassade eines funktionierenden Systems lange genug aufrechtzuerhalten.
6. Komplexe Strukturen
Viele Betrugssysteme gaukeln Transparenz vor, die allerdings nur für extra dafür geschönte Bereiche gilt. Abseits davon sind die Strukturen allerdings oft bewusst so komplex ge- und verstrickt, dass sie undurchschaubar werden. Fallweise wird die vermeintliche Sicherheit einer Prüfung und Regulierung durch offizielle Stellen vermittelt. Sie dient als willkommene Beruhigungspille für diejenigen, die sich von der Komplexität der Strukturen überfordert sehen.
Evidenzbasiertes Denken als Schutz vor betrügerischen Systemen
Die Hoffnung auf schnelle Profite und intuitive Zuwendung zu Chancen zwielichtiger Geschäftsmodelle ist das konkrete Gegenteil von evidenzbasiertem Handeln. Die Tragödie der Betrogenen nimmt ihren Lauf, weil nüchternes Abwägen auf Grundlagen von Wissen über tatsächliche Chancen unterbleibt. Dass das oft geschieht, weil persönliche Empfehlungen im Bekannten- oder Freundeskreis das Einholen harter Prüffakten scheinbar unnötig machen, ist dabei nur einer von vielen Gründen.
Umso mehr ist zu betonen, dass evidenzbasierte Erkenntnisse über betrügerische Geschäftsmodelle Fehlentscheidungen vermeiden können.
- Die Einschätzung der notwendigen Evidenz nach dem Motto "extraordinary claims need extraordinary evidence" bietet die Möglichkeit, sich selbst zu schützen: Hohe Renditeversprechen mit geringer Risikoübernahme sind in der Tat zu gut, um wahr zu sein.
- Ermittelnde im Bereich Wirtschaftskriminalität nutzen evidenzbasierte Methoden, um betrügerische Wirtschaftsmodelle aufzudecken, beispielsweise durch die Überwachung von Unregelmässigkeiten in Finanzflüssen.
- Durch Evidenz können die Risiken, in betrügerische Systeme hineinzufallen, gemindert werden. Der Vergleich mit vergangenen Fällen kann Aufschluss über die Psychologie des Betrugs respektive der Betrügenden liefern.
Die HudsonGoodman Perspektive
Wenn bei Entscheidungsfindungen evidenzbasiert gedacht und gehandelt wird, minimiert sich das Risiko signifikant und maximiert sich die Sicherheit deutlich. Doch Evidenz verdient das Image als Spielverderber beim Nutzen grosser Chancen nicht – im Gegenteil: Tatsächlich grosse Gelegenheiten wird sie noch nutzbarer machen. Und vor Betrugsmaschen schützt sie zugleich.