Conversation

"Gesellschaftlich haben wir einen enormen Innovationsbedarf"

Was kann Raumfahrt im Ringen um Fortschritt bewegen? Und haben Milliardäre Vortritt im All? In Teil 1 unseres Interviews mit Eleonore Poli antwortet die Analog-Astronautin darauf und beurteilt den Innovationsbedarf unserer Gesellschaft.
Eleonore Poli im Astronaut-Outfit

Geopolitik, Milliardäre, Klimawandel: Ein halbes Jahrhundert nach der Mondlandung steigt das Interesse am Weltraum wieder. Während private Investoren mit Weltraumtourismus ein neues „Rennen“ anfeuern, hat die Raumfahrt angesichts fundamentaler Herausforderungen auf der Erde aktuell keinen leichten Stand.  

In Teil 1 unseres zweiteiligen Interviews mit Eleonore Poli werfen wir mit der Analog-Astronautin einen Blick darauf, welchen Bedarf unsere Gesellschaft an Innovation hat und welche Rolle die Raumfahrt-Forschung im Ringen um Fortschritt und eine bessere Welt spielt.

HudsonGoodman: Was bedeutet Innovation für Dich? 

Eleonore Poli: Prozess des Denkens und Entwickelns eines Konzepts oder einer Technologie, die bis dahin nicht existierte. Du hast eine Idee, und du setzt sie um.

In welchem Bereich gibt es Deiner Meinung nach heutzutage den grössten Bedarf an echten Innovationen? 

Das ist eine schwierige Frage. Innovation nimmt verschiedene Formen an und findet in vielen Bereichen statt: Physik, Technologie, Soziologie. Neulich las ich Physics World, eines meiner Lieblingsmagazine. Die Berichte darin spiegelten eine Gesellschaft wider, die natürlich nicht perfekt ist, in der sich aber beeindruckende Geistesgrössen voll und ganz auf Innovation, Entwicklung und Wissenschaft konzentrieren.

Es war schockierend, danach zu den lokalen Nachrichten zu wechseln: Krieg, Klimawandel, Menschenrechte, die mit Füssen getreten werden – ein krasser Kontrast. Es fühlte sich an, als gäbe es zwei Welten: eine der glückseligen Wissenschaft, bestimmt von einem Wettbewerb des Wissens, und eine der reinen primitiven Barbarei.

Ich denke, der Bereich, in dem der grösste Bedarf an Innovation besteht, ist die Soziologie: Wir müssen unsere Gesellschaft überdenken bzw. ein Modell erdenken, das funktioniert (Eleonore lächelt). Weisst Du, warum ich gerade lächle? Ich denke an Star Trek. Das Beeindruckende in den ersten Episoden war nicht die Technologie, sondern welche unterschiedlichen Arten von Gesellschaften, Arbeits- und Lebensweisen sich die Macher überlegt hatten. Ganz klar: Gesellschaftlich haben wir einen enormen Innovationsbedarf! 

Analogastronautenteam stehen für ein Bild
© Eleonore Polis Porträt / dieses Bild: Jamani Caillet / 2021 EPFL

Unsere Gesellschaft neu denken: Wo soll man anfangen? 

Oh, diese Frage zu beantworten ist, wie in ein unendliches Kaninchenloch zu tauchen, dessen Ausgang man nicht kennt. Helfen würde vielleicht, sich zunächst mal den Kontext zu einigen Dingen klar zu machen. Zum Beispiel: 

  • Es wird genug Nahrung für alle produziert. Die Tatsache, dass auf der Welt immer noch Menschen hungern, kommt durch die ungleichmässige Verteilung der vorhandenen Ressourcen. 

  • Wir haben Roboter geschaffen, die viel und bald sogar die Mehrheit der Arbeiten ausführen können, die schwierig, gefährlich oder geistig ermüdend sind. 

  • Der medizinische Fortschritt hat sich so sehr verbessert, dass die Mehrheit der Menschen altersbedingt an Krankheiten stirbt und nicht bei Unfällen. 

Und was können wir daraus schliessen?  

Dass es im Alltag der meisten Menschen nicht mehr wie bei wilden Tieren ums nackte Überleben geht. Wir haben die Freiheit, andere Dinge zu tun. Dafür müssen wir verstehen, was wir tatsächlich brauchen, und Reichtum und Ressourcen gerechter verteilen, also beispielsweise Lebensmittel anderen zugänglich zu machen, statt sie in den privilegierteren Ländern der Welt zu verschwenden. Und wir müssen die Zeit nutzen, die wir haben. Wer nicht mehr mit Überleben beschäftigt ist, hat mehr Zeit, um Wissenschaft und Technologie auszubauen, den Planeten zu erforschen, den Klimawandel einzudämmen. Es geht darum, wie Bildung zugänglich wird und wie wir das Leben verbessern können, ohne die Welt, wie wir sie kennen, zu zerstören.  

"Wir sind nicht mehr mit Überleben beschäftigt – wir haben die Zeit, um Wissenschaft und Technologie auszubauen.“

Das All ist heutzutage ein viel diskutiertes Thema: Einerseits ermöglichen Allmissionen grundlegend wissenschaftlichen Fortschritt. Andererseits scheint der Weltraum zum Spielplatz für Milliardäre zu werden. Wie kann eine Gesellschaft, in der immer stärker polarisiert wird, diesen Widerspruch bewältigen? 

Es ist wichtig, die ursprünglichen Ziele der Weltraumforschung und das grosse Ganze im Auge zu behalten. Als die NASA zum Beispiel den ersten Menschen auf den Mond brachte und andere unglaubliche Missionen startete, erntete sie viel Kritik. Die Leute wussten gar nicht, warum die NASA das alles tat – was sie aber spürten, war, wie sich die hohen Kosten auf die Steuern auswirkten und so zu einem Anstieg der Armut führten.

Statt eines kollektiven Raumfahrt-Rausches gab es eine massive Kluft zwischen den Steuerzahlern und dem Programm selbst. Das ist in der Wissenschaft sehr oft der Fall. Das Problem daran: Die Finanzierung von Forschung, insbesondere bei Raumfahrtagenturen, ist auf öffentliche Gelder und die Gunst der Öffentlichkeit angewiesen. Nur sind die meisten Menschen keine Wissenschaftler, was es manchmal schwer macht, den Wert und Nutzen von Raumfahrtmissionen zu erfassen. 

Die Erde vom Mond aus gesehen

Wie lässt sich damit in der Praxis umgehen? 

Ein Ansatz wäre, den Weltraum zu „öffnen“, indem der Zugang erst einem „High-End“ Segment gewährt wird und mit diesen Geldern Technologieentwicklung betrieben werden kann, um den Zugang anschliessend dann allen zu ermöglichen. So wie beim Fliegen in den Zwanzigern und Dreissigern des letzten Jahrhunderts: Das konnten sich damals nur wohlhabende Leute leisten.

Das ermöglichte jedoch die Entwicklung und Einführung von Technologien, die später dazu führten, dass Fliegen etwas für alle wurde. Der Raumfahrt-Wettstreit der Milliardäre ist also vielleicht ein notwendiges Übel, um die Art und Weise zu ändern, wie wir in den Weltraum gelangen. Irgendwie muss es ja anfangen.  

Tunnel in der analogen Astronautenbasis
© Jamani Caillet / 2021 EPFL

Und wie kann es dann weitergehen? 

Der Weltraum ist ein wunderbares Geschenk. Wir sollten ihn nutzen, um die Wissenschaft voranzubringen, aber auch um als Menschheit voranzukommen. Wenn die Technologie es hergibt, wäre es unfair, nicht allen Zugang zu gewähren. Und könnten mehr Menschen die Schönheit der Erde aus dem Weltraum sehen, würden wohl auch mehr Menschen sie tatsächlich schützen. Ich bin zum Beispiel auch davon überzeugt, dass wir, wenn wir die Bevölkerung dafür genug begeistern können, zum Mars gelangen werden. Die öffentlichen Mittel dafür würden aber sofort gekürzt, wenn der dritte Weltkrieg ausbricht oder eine der Mars-Raketen einen Unfall hätte. Haben Sie dagegen kommerzielle Weltraumflüge, könnten Investoren die Finanzierung immer noch unterstützen. 

„Ins All zu fliegen, bringt eine moralische Verpflichtung mit sich.“

Würdest Du als Touristin ins All fliegen? 

Ins All zu fliegen geht aus meiner Sicht mit einer moralischen Verpflichtung einher. Als Touristin würde ich darum niemals einen Flug machen. Auf der anderen Seite gibt es Wally Funk. In den Sechzigerjahren wurde sie als Astronautin für eine Weltraummission ausgewählt, flog aber nicht, weil sie eine Frau war. Aber jetzt, mit 82 Jahren, flog sie als Teil der Crew von Blue Origins New Shepard – in einem ausschliesslich kommerziellen Raumflug.

Satellit in der Erdumlaufbahn

Was meinst Du mit "moralischer Verpflichtung“? 

Die verfügbaren Plätze für eine Reise ins All sind begrenzt und die Energie-, Zeit- und Geldinvestitionen sowie CO2-Emissionen sehr gross. Man sollte das weder leichtnehmen noch vergessen, dass man auf den Schultern tausender Menschen steht, deren Arbeit Raumfahrt ermöglicht. Da muss etwas zurückgegeben werden, zum Beispiel, indem man Experimente durchführt, die uns als Menschheit weiterbringen. Wenn Sie morgen Ihre eigene Rakete bauen, kein CO2 ausstossen und keine Trümmer im Weltraum hinterlassen, dann können Sie tun, was Sie wollen. Aber im Moment werden zu viele Ressourcen und Arbeit benötigt, als dass man andere nicht berücksichtigt. Man hat also eine Verantwortung.

Über die Interviewpartnerin

Eleonore Poli, 26, ist Analog-Astronautin und promoviert aktuell an der University of Cambridge in Materialwissenschaft und Metallurgie. 2020 war sie Kommandeurin der Mission Asclepios I, einem 8-tägigen Projekt, das eine Mondbasis in den Bergen nachbilden sollte. Ende 2021 hielt Eleonore Poli im Rahmen des TEDx Zürich 2019 den Vortrag “Analogue space missions: a rehearsal of mistakes for the achievement of greatness”, der sich der Bedeutung von Fehlern im Bestreben um Verbesserung widmet.

Lesen Sie hier den zweiten Teil des Interviews mit Eleonore Poli.