Kein Zweifel: Die Welt ist volatil, unsicher, komplex und vielseitig auslegbar. Ist VUCA aber das Konstrukt, das diesen Zustand verwertbar beschreibt und besser in den Griff kriegen lässt? Oder etwas früher angesetzt: Wie fassbar existiert VUCA überhaupt?
Diese Frage, die so blasphemisch klingt, hat durchaus Berechtigung. Denn der Hinweis auf die allgemeine VUCA-ness der Welt beweist noch nichts. Erst die Einordnung schafft Praxisrelevanz. Wie VUCA ist sie? Hat die VUCA-ness zugenommen? Wenn ja, wie stark?
VUCA ist als Zustandsbeschreibung der Welt zwar aufsehenerregend, bleibt durch mangelnde empirische Messbarkeit aber flach in der Aussage. Darum ist auch die Anwendbarkeit von VUCA im Innovationsprozess zweifelhaft. Es triggert zwar allgemein Innovationsaktivität und Denken in grösseren Kontexten, bleibt aber wegen fehlender Messbarkeit zu aussageschwach. Ein Ausweg daraus könnte das individuelle Betrachten der vier Einzelbestandteile von VUCA sein.
Hier deutet sich bereits an, dass der reine VUCA-Begriff zu gross, zu allgemein, zu flüchtig ist, um empirisch erfasst (sprich: gemessen) werden zu können.
Das ist in der Praxis ein Problem für VUCA. Und führt dazu, seine Relevanz in anderer Hinsicht zu prüfen.
Triggert VUCA Innovationen?
Kann etwas, das gar nicht real messbar zu greifen scheint, trotzdem ein Trigger für Innovationen sein? Ja, kann es. Denn was, wenn nicht der Wunsch, eine schwierige Welt besser zu fassen zu kriegen, soll überhaupt ein Trigger für Innovation sein?
VUCA beschreibt diese Welt. Es fordert damit implizit, dem Chaos mit neuen flexiblen und agilen Ideen zu begegnen. Und es erzeugt einen spürbaren Zwang, Innovation grösser zu denken: Unternehmer:innen können neue Technologien nicht länger nur isoliert fokussieren, sondern müssen die sie umgebenden Ökosysteme mitberücksichtigen. VUCA nötigt fast schon dazu, statt singulärer Business-Bereiche auch deren Vernetzung mit anderen, mit Lieferketten und mit Kunden zu beachten. Well done, VUCA!
Aber STOP, so leicht ist es auch wieder nicht. Ja, VUCA beschreibt die Herausforderungen der Welt. Aber noch einmal: Messbar (und damit real verwertbar) macht sie die VUCA-ness nicht. Und das ist dann so, wie wenn jemand sagen würde „Da müsste man mal was tun“, das WAS und WARUM aber schuldig bliebe. Der ganz reale Einfluss von VUCA auf Innovations- oder Strategievorhaben scheint damit dann doch eher marginal. Thank‘s for nothing, VUCA.
VUCA als Suchwort? Kein Interesse.
Welche Relevanz VUCA in der Praxis überhaupt hat, lässt sich auch noch aus einer anderen Perspektive beleuchten: der des Online-Suchvolumens. Gemeinhin neigt der Homo Oeconomicus schliesslich immer stärker dazu, Wissen durch googeln aufzubauen – und das auch erst bei direktem Anwendungsinteresse zu tun. Relevanz und damit eine Existenzberechtigung wird einer Sache vorher oft nicht eingeräumt. Das heisst: Nur was gesucht wird, existiert real – was ungesucht bleibt, „lebt“ bestenfalls in wissenschaftlichen Abhandlungen. VUCA ist dafür ein perfektes Beispiel.
Vergleicht man zwischen 2004 und 2022 die Suchvolumina von VUCA und seiner Begriffe (im VUCA-Kontext) im Einzelnen, ist das ernüchternd.
“VUCA” wird in der DACH-Region fast gar nicht gesucht.
Auch für “Ungewissheit” bzw. “Uncertainty” interessiert sich niemand.
Lediglich die Schweizer Kantone Bern und Zürich haben nennenswerte Volumina für “VUCA + Komplexität”.
“Ambiguität” bzw. “Mehrdeutigkeit” sucht man in der gesamten französischsprachigen Schweiz mit Ausnahme von Genf, dafür aber in allen Kantonen nördlich des Waadtlandes so gut wie gar nicht.
Einzig “Volatilität” verzeichnet in allen Schweizer Kantonen (und vielen deutschsprachigen Regionen im DACH-Raum) einen stetigen Suchfluss mit sogar steigender Tendenz. Gleichwohl: Es ist wahrscheinlich, dass Nutzer:innen nicht aus Managementinteresse nach Volatilität suchten, sondern aufgrund spezifischer Events oder Medienpublikationen, die den Begriff in einem anderen Kontext aufgegriffen haben.
Unterm Strich ergibt sich damit ein seltsames Bild: VUCA ist omnipräsent in wissenschaftlichen Abhandlungen, aber nahezu inexistent in der (Such-)Praxis.
Konzentration auf einzelne VUCA-Aspekte statt auf das Gesamtkonzept
VUCA weist also Gesamtkonzept Schwächen auf. Aber es lohnt sich (trotz mangelndem Suchinteresse), die Kraft seiner Einzelteile (Volatilität, Ungewissheit, Komplexität und Ambiguität) näher zu betrachten. In der Tat gehen manche Organisationen so vor: sie übersetzen die einzelnen VUCA-Elemente in operationalisierbare und tatsächlich testbare Dimensionen. Beispielsweise kann das Element "Ungewissheit" über Surveys oder automatische Verhaltensregistrierung auf Websites bei der Zielgruppe abgetastet werden. Die daraus resultierenden Daten lassen Rückschlüsse auf Problemfelder oder Chancen in den jeweiligen VUCA-Elementen zu. Auf diese Weise lassen sich grosse Mengen an analytischer Information strukturieren und priorisieren. Ein sinnvoller Ansatz – immerhin ermöglicht er Entscheidungsträgern, Kompetenzen in Bezug auf Entscheidungsfähigkeit, Risikomanagement oder Problemlösung gezielter aufzubauen.
Wie es um diese und andere VUCA-Fähigkeiten bestellt ist, wertete übrigens die Wissenschaftlerin Theo Dawson 2020 auf Basis von Führungskräfte-Assessments aus. Die Ergebnisse zeigten über vier Kompetenzfelder (perspektivisches Handeln, Kontextdenken, Entscheidungsstärke und Kollaborationsfähigkeit) hinweg einen Leistungs-Durchschnitt von etwa 40 % für alle Manager-Stufen bis zum Executive Management. Auf CEO-Stufe steigt die Performance auf 60 %. Dawson erklärt die geringen VUCA-Fähigkeiten vieler Führungskräfte mit einem mangelnden Fähigkeiten-Testing unter realen Bedingungen: Die akademische Lehre sei nahezu ungeeignet für die Vorbereitung auf VUCA.
Die Hudson Goodman Perspektive
Für Praktiker stellt sich Frage, ob die Welt VUCA ist, nicht. Sie ist es so wie Wasser nass ist: zu 100 % selbstverständlich. Ein Konzept, das oberflächlich betrachtet nur noch einmal darauf hinweist, aber kein empirisch messbares Gewicht in die Waagschale wirft, kann darum auf den ersten Blick niemand gebrauchen. Es lohnt sich aber, genauer hinzuschauen. VUCA könnte seine wahre Relevanz durchaus nach Zerlegung in seine Einzelteile offenbaren. Auch die müssen längst nicht durchgängig von Bedeutung sein. Für Innovationsprozesse lohnt es sich jedoch, die Teile von VUCA zu identifizieren, die wirklich einen Mehrwert bringen. So lassen sich gleichzeitig Risiken vermeiden.
Was dabei zu beachten ist, beschreiben Teil 3 (Volatilität und Ungewissheit) und Teil 4 (Komplexität und Ambiguität) unserer VUCA-Serie.
Hier geht es zu Teil 1 – Was ist VUCA (und was nicht)?
Hier geht es zu Teil 3 – Wie das "V" und das "U" in VUCA Innovationsvorhaben beeinflussen
Hier geht es zu Teil 4 – Wie Komplexität und Ambiguität Innovationsvorhaben beeinflussen