Während wir in Teil 3 unserer VUCA-Serie die VUCA-Bestandteile Volatilität und Ungewissheit unter dem Mikroskop hatten, nehmen wir uns im vierten und letzten Teil die Aspekte Komplexität (Complexity) und Ambiguität vor. Genauer gesagt: Wir untersuchen, welchen Einfluss sie auf Innovationsvorhaben ausüben können.
Komplexität – wenn die Dinge unüberschaubar werden
Die im VUCA-Konzeptbeschriebene Komplexität ist gleicht der Komplexität am Anfang von Innovationsprozessen und ist vollkommen normal. Sie nimmt aber ab, wenn die Vielzahl relevanter Faktoren beginnen, in Wechselwirkung zu treten und dadurch neue, weniger komplexe Strukturen schaffen (Emergenz). Die „überbleibende“ Komplexität wird z. B. durch evidenzbasiertes Ideentesting kontrollierbar.
VUCA-Ambiguität betont, dass Informationen mehrdeutig sein können und damit schwer einzuordnen sind. Das gemeinsame Festhalten an einer starken Vision kann Teams helfen, die Unsicherheit gegenüber Mehrdeutigkeiten auszugleichen. Hohe Agilität ermöglicht, bei Fehldeutung einer Information oder Situation reagieren zu können.
Gut informiert zu sein, macht handlungsfähig – überinformiert zu sein dagegen lähmt. Der VUCA-Bestandteil Komplexität widmet sich genau dieser Lähmung. In Innovationsvorhaben tritt sie leicht auf, wenn zu Beginn des Prozesses alles noch graue Theorie, variabel und so schwer festzunageln ist wie ein Pudding an der Wand. Der Grund: Beim Bestreben, die grossen Unbekannten (z. B. Marktpotenzial, Lieferketten-Resilienz, Teamfähigkeit) aufzulösen, kommen so viele Daten und Infos zusammen, dass die Dinge unüberschaubar werden. Beziehungsweise (zu) komplex.
Im worst case resultiert daraus Chaos. Dem steht selbstredend aber auch ein best case gegenüber. Und hier passiert ein kleines Wunder.
VUCA-Komplexität wird im besten Fall zu "Emergenz"
Aus Komplexität in Innovationsvorhaben entwickelt sich im best case sogenannte Emergenz. Für alle, die nicht nach einer Begriffsdefinition kramen möchten: Das Zusammenwirken von Elementen eines Systems lässt neue Strukturen oder Eigenschaften entstehen. Genau diese emergenten Eigenschaften sind das Wunderbare, was Innovationsprozesse hervorbringen können. Und sind sie erst da, reduzieren sie im Umkehrschluss ganz nebenbei die vormals herrschende Komplexität.
Für die Praxis von Innovationsvorhaben ist die Auseinandersetzung mit Komplexität darum sehr relevant. Sie erinnert an eine für Innovationen unabdingbare Bereitschaft: die, beherzt ins kalte Wasser zu springen und eine vorher festgelegte Richtung wie geplant einzuschlagen. Der Systemkritiker Niklas Luhmann nennt das übrigens auch „Kontingenz“ – die Notwendigkeit, sich auf Risiken einzulassen.
Testing unter marktähnlichen Bedingungen spiegelt komplexe Umwelt
Komplexität heisst im Endeffekt, dass Dinge zu unhandlich erscheinen um sie zu klären. Das kann im Ausnahmefall akzeptiert werden (Stichwort Restrisiko), darf aber nie zu projektgefährdenter Ignoranz führen. Bei internationaler Präsenz etwa die Komplexität länderspezifischer Regulatorik auszublenden – keine gute Idee. Wenn etwas zu komplex erscheint, um im Prozess voranzugehen, sollte darum unbedingt Massnahmen ergriffen werden.
Intensivere Kommunikation erzeugt dabei oft lediglich einen noch weitere steigenden Informationsüberfluss ohne echten Mehrwert. Nate Bennett, Professor der Georgia State University, skizziert eine bessere Lösung. Er schlägt vor, eine Kollaborations- und Produktionsstruktur einzuführen, die die Herausforderungen der komplexen Umwelt spiegelt. Heisst konkret: Innovationsansätze sollten so früh wie möglich unter marktähnlichen Bedingungen entwickelt und in Prototyp-Form getestet werden.
Und noch etwas empfiehlt sich: Autonomie der Verantwortlichen. Haben sie im Innovationsprozess genug eigenen Handlungsspielraum, können sie schneller und passender Lösungen zur Bewältigung komplexer Lagen zimmern.
VUCA-Ambiguität im Innovationskontext
Während Komplexität die Frage „Wie sollen wir das alles unter einen Hut bringen?“ aufwirft, heisst es bei Ambiguität eher „Unter welchen Hut gehört das überhaupt?“ Einzelne Informationen, Signale oder Events lassen sich per se unterschiedlich deuten, und diese Unterschiede können in den Augen unterschiedlicher Betrachter noch einmal zunehmen. Damit konfrontiert können sich Teams und Entscheider lange mit „Einerseits – andererseits“-Abwägungen aufhalten und selbst aus dem Rennen nehmen.
Innovatoren aber müssen anders handeln.
Bei Ambiguität sind visionäre Führungsfiguren unersetzlich
Die beste Medizin gegen das Schwanken innerhalb einer Mehrdeutigkeit ist eine klare Vision. Gerade für Innovatoren und Innovationsteams ist eine klare Vision die stabilste Leitplanke, wenn die Umwelt mehrdeutige Signale produziert. Alle am Innovationsprozess Beteiligten sollte sie kennen und verinnerlichen.
Jede Vision braucht aber auch einen Visionär bzw. eine Visionärin. Diese Rolle kann nicht das Innovationsteam oder eine Organisation übernehmen. Wenn Mehrdeutigkeit Unsicherheit aufbringt oder Ziele in Frage stellt, geht der Blick automatisch zur Führung. Steht dort eine starke Figur, die eine Vision verteidigt? Die Verantwortung für Deutungshoheit übernimmt? Die den Kurs zum Innovationsziel einhält ohne zu schwanken? Falls ja, ist das wie eine Anti-Ambiguitäts-Versicherung. Falls nein: viel Glück.
Konkrete Reaktionen auf Ambiguität
Die Schwester der Ambiguität, Volatilität, kann unter Umständen durch das Durchspielen von Szenarien kontrolliert werden. Bei Ambiguität geht das nicht. Die Kombination aller Faktoren, die zum Erfolg einer Idee beitragen, lässt meist unendliche viele Ausprägungen mit ebenso unendlich vielen Deutungsmöglichkeiten zu. Dazu passende Szenarien zu kreieren wäre eine absurde Ressourcenverschwendung.
Stattdessen empfiehlt sich bei Ambiguität eine Strategie aus Akzeptanz, Sicherheit und Flexibilität. Innovationsteams müssen in geeignetem Masse
- akzeptieren, dass sie Situationen falsch deuten können und darum risikoreiche Entscheidungen treffen (dadurch aber auch handlungsfähig sind)
- sicherstellen, dass Markt- und Zielgruppensignale korrekt gedeutet werden, z. B. indem Zielgruppenbedürfnisse sorgfältig und unter realen Bedingungen durch Experimente geprüft werden
- agil genug sein, um bei Fehldeutung einer Information und resultierende Situationen schnell reagieren zu können
Schlussbetrachtung – VUCA in der HudsonGoodman Perspektive
VUCA ist in Gänze kaum mehr als ein Trendwort und allenfalls so etwas wie das Business-Äquivalent zum Marry-Poppinsschen Supercalifragilisticexpialigetisch. Eine Aneinanderreihung grosser Wörter im Bestreben ein noch grösseres zu schaffen. Gross genug, um Entscheider von der Verantwortung für ihr Handeln freizusprechen – denn was lässt sich einer scheinbar unberechenbaren Welt schon entgegensetzen?
Tatsächlich vieles. Bei Innovationsvorhaben wird das aber erst deutlich, wenn man sich die Einzelaspekte von VUCA vornimmt. Volatilität, Ungewissheit, Komplexität und Ambiguität sind nicht nur unterschiedlicher, als es ihre Zusammenfassung im Wort VUCA suggeriert, sondern auch handelbarer. Zwei der Ansätze dafür sind evidenzbasiertes Testing von Ideen oder Prototypen und die Modellierung passgenauer Personas im Rahmen eines Innovationsprozesses. HudsonGoodman hilft dabei.
Hier geht es zu Teil 1 – Was ist VUCA (und was nicht)?
Hier geht es zu Teil 2 – Die Relevanz von VUCA in der Praxis
Hier geht es zu Teil 3 – Wie das "V" und das "U" in VUCA Innovationsvorhaben beeinflussen